Zu den Arbeiten von Michael Schramm
Von Nikolai Forstbauer
Die Linie wagen ist ein Abenteuer. Der Linie folgen ist ein Aufbruch, ist ein Antritt. Die Linie ist eine Hoffnung, deren Kraft aus dem Widerspruch kommt. Wer die Linie wagt, ist sich des Zusammenspiels von Gehirn und Hand sicher. Wer die Linie wagt, kann aus ihr ein bildnerisches wie ein textuelles Programm entwerfen. Zugleich aber gilt: Wer die Linie wagt, weiß um die Zerbrechlichkeit der Voraussetzungen. Wer die Linie wagt, weiß um die Anfeindungen in der Entwicklung. Ja, wer die Linie wagt, weiß um die Bedeutung des Zweifels.
Im Song „Im Zweifel für den Zweifel“ (2010) der Hamburger Band Tocotronic heißt es:
Im Zweifel für die Zwitterwesen
Aus weit entfernten Sphären
Im Zweifel fürs Erzittern
Beim Anblick der Chimären
Aber auch:
Im Zweifel für den Zweifel
Und die Unfassbarkeit
Für die innere Zerknirschung
Wenn man die Zähne zeigt
Michael Schramm wagt die Linie, lässt sie antreten, folgt ihr, spürt ihr nach, lässt sie laufen und fängt sie ein, lenkt sie um, spitzt sie zu und breitet sie aus zu einer Fläche, zu einem Raum. Michael Schramm wagt die Linie. Als Zeichner. Als Autor. Er macht die Linie zu seiner Verbündeten und setzt sie doch immer neu und immer wieder bekannten wie unbekannten Gefahren aus.
Wer aber ist der Akteur? „Trying to hold my hands / have my hands held“ ist eine (Bleistift-)Arbeit von Michael Schramm aus dem Jahr 2017 betitelt. Linien formieren sich zu einem unten offenen Oval, das im oberen Bereich von einer eigentümlichen Formation bestimmt wird: Fingerglieder und Finger begegnen sich da als nach links und rechts ausschwärmende Lebewesen. Dicht an dicht geschieht dies und doch ohne dass man von einer bewussten Berührung sprechen könnte. Ist die Hand Akteurin? Sind die Hände Akteurinnen?
Was aber geschieht, wenn die Hände ihre Freiheit genießen, wenn sie Stifte bewegen, Rollen in Farbe tränken und über eine Glasplatte führen, wenn die Lineatur sich aus der fast Körperlichkeit annehmenden Farbe löst, diese abschüttelt, eigene Netze bildet? Zwölf Jahre nach „Im Zweifel für den Zweifel“ heißt es in dem Tocotronic-Song „Ich tauche auf“:
Ich tauche aus dem Wasser auf
Wie aus einem tiefen Schlund
Wohl auch deshalb ist mein Mund
Fest zugepresst
Und in der zweiten Strophe:
Gestern hab ich dich vermisst
Wo ist deine Nachricht?
Nachricht für mich
So denke ich dich
Nicht anders sind die Arbeiten von Michael Schramm denkbar, als in einem imaginären Dialog mit einem Gegenüber. „So denke ich dich“ – das ist es, das ist die Aussage wie die Frage. Ist es in Ordnung, dass ich Dich so denke? „Somewhere Between Hands“ fügt Schramm in einem Bildtitel hinzu. Und schiebt die Frage nach: „Is it possible to be revolutionary (and like flowers)?“. Es ist ein Kräftemessen. Hier die Buchstaben, die Worte werden, die Zeilen werden, die Gedanken werden, Momente, die zersplittern. Dort die Linien, die sich verbünden, sich durchdringen, die auseinanderstreben, Neues wagen, um sich gelegentlich doch unter einem Ganzen geborgen zu wissen.
Die Klammer hat es buchstäblich in sich: „(and like flowers)“. Buchstaben-Poesie und Bild-Poesie begegnen sich. Das Wort Assoziationsraum ist schnell geschrieben, aber es trifft die Sache nicht. Die Klammer meint etwas Konkretes, ist konkret, ist, was wir lesen, und ist zugleich ein Bild, das sich auswächst, neue Blüten treibt. Michael Schramm antwortet mit einer anderen Lineatur, einer anderen Zeile, einem anderen Ausruf: „Die Ausbeutung der kreativen Kraft zu Lasten der kreativen Kraft“. Geht das Ringen zwischen Schrift und Bild tiefer als gedacht?
Der Strudel schiebt sich dazwischen. Die Linien umkreisen sich, fassen sich, ziehen sich im Kreisen, im Kreiseln. Bei Tocotronic geht die Beschwörung des Auftauchens weiter mit den Zeilen:
Ich habe dich noch nie gesehen
Oben bei den Lebewesen
Hier bist du nie gewesen
Nur gelesen habe ich von dir
Kommt die Schrift vor dem Bild? Ist der Text das eigentliche Bild? Die Frage ist eher, ob ein Satz, ob eine Zeile, ob ein Bild, ob ein Blatt von Michael Schramm im klassischen Sinn endet. Gehen die Worte, gehen die Sätze, gehen die Blätter nicht immer weiter? Linienbündel verlassen ein Blatt, tauchen an ganz anderer Stelle wieder auf. Zufällig? Zeichnen, besser malendes Zeichnen, hat für Michael Schramm viel mit Schwimmen zu tun. „Linie als spritzendes Wasser; macht Geräusche, kann fein sein oder zur Welle werden.“ Zum Text, zum Bild, zur Bewegung, tritt ein weiteres hinzu: der Klang. Das Werk von Michael Schramm ist so nicht anders zu verstehen, denn als ein ermessendes Erkunden – zeichnend, malend, schreibend, hörend. Das Performative ist offenkundig und braucht doch, für den eigenen Auftritt, einen Schritt zurück. In Distanz zum Linienbündel kann Performatives gelingen. Nicht dass Bilder Worte werden. Nicht dass Worte Bilder werden. Eher, dass Worte Etwas werden, ein Etwas aus dem Kinder- und Jugendbuch „Dort, weit hinter dem Fluss“ von Juri Korinetz. Ein Etwas, das für sich steht, das in der Zukunft liegt, auch wenn es im Blick zurück auftaucht, ein Etwas, das immer auf die Möglichkeit zielt. Ein Etwas, auf das es nur eine gültige Antwort gibt: „Donnerwetter!“
Ernsthaftes Erkunden aber ist kaum denkbar ohne Irrläufe, Fehler, Freude, wo doch keine zu erwarten war.
Im Zweifel für Ziellosigkeit
Ihr Menschen, hört mich rufen
Im Zweifel für Zerwürfnissen
Und für die Zwischenstufen
Heißt es bei Tocotronic. Ein wenig ungelenk fast. Aber doch sicher, dass solches Erkunden Räume, Geflechte und Gelenke provoziert. Nicht selten gerät dabei scheinbar etwas aus dem Lot, findet jedoch zu sich selbst zurück. Auf Nebenwegen. Über Umwege. Das Bild ein Bildwesen? Organismen schon der einfachsten Ordnung erscheinen uns bei näherer Betrachtung komplex. Nicht anders die Bildwesen von Michael Schramm. Umso mehr, als das Wesenhafte sich zugleich wieder zurückzieht, einer Struktur an sich Raum gibt, einer Struktur der Beziehungen. Wie verhalten sich Linien zueinander, wie verhalten sich Farben zueinander, wie verhalten sich Räume zueinander, die erst erschlossen werden?
„Language Users“ ist eine Wortkopplung von Michael Schramm, ist ein Satz, ist ein Rhythmus, ist ein Bildtitel, ist ein Bild, ist das Benennen einer Vielzahl von Annäherungen in der Struktur der Beziehungen. „Die Linien meiner Zeichnungen gehen nicht spazieren“, schreibt Michael Schramm. Das stimmt, wenn Schramm das Ungefähre als ungültig identifizieren will. Zugleich aber ist das Spazieren längst als eine Form der Bereitschaft absoluter Wahrnehmung identifiziert. Vielleicht also wäre am Ende eine Gegenrede notwendig. Die Linien Michael Schramms – sie nehmen das Spazieren ernst.