Die Dinge singen…

Eröffnungsrede zur Ausstellung Michael Schramm – Tremolo

Von Anja Rumig

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. / Sie sprechen alles so deutlich aus: / Und dieses heißt Hund, und jenes heißt Haus, / und hier ist Beginn und das Ende ist dort. // Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, / sie wissen alles, was wird und war; / kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. // Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern / Die Dinge singen hör ich so gern. / Ihr rührt sie an: Sie sind starr und stumm. / Ihr bringt mir alle die Dinge um.“

So lautet Rainer Maria Rilkes lyrisches Plädoyer aus dem Jahr 1897 dafür, die Identität und den Wirkungsradius von Wesen und Dingen nicht durch ein einziges Wort, einen Begriff, einen Namen auf eine allgemein bekannte Bedeutung zu reduzieren. Zwar können Worte und Begriffe so viel mehr beinhalten als das, was sie vorgeben, aber auch so viel weniger als das, was sie versprechen. Das belegen ebenso die Vergleiche von Bezeichnungen für völlig identische Dinge in unterschiedlichen Sprachen: Was in der einen etwas ganz Bestimmtes definiert, meint in der anderen nicht immer die gleiche Sache oder darüber hinaus noch etwas ganz anderes. Und wie oft kommen wir an die Grenzen unseres Sprachrepertoires, wenn wir etwas formulieren wollen, aber feststellen müssen, dass es dafür keinen treffenden Begriff gibt, obwohl das Erleben oder die Erkenntnis des zu Formulierenden klar und deutlich ist.

So klar und deutlich, wie es bei den vielfältigen, uns vertraut und dennoch verändert anmutenden Gebilden im poetischen Kosmos der Zeichnungen von Michael Schramm der Fall ist. Auch sie wollen sich nicht durch einen handhabbaren Begriff auf eine allein gültige Bedeutung festnageln lassen, generieren sie sich doch aus der Freiheit des Möglichen. Sie geben sich als Spiel mit verwandtschaftlich Bekanntem aus unserem Erinnerungs- und Assoziationsvermögen, indem sie uns in ungewohnten Erscheinungsweisen und uns fremden Konstellationen vor Augen treten:

Da erhellt beispielsweise Baumartiges das Nachtdunkel und beleuchtet ein Feld mit Schattenformen ohne Referenz. Oder es tanzen weiße Arabesken munter vor nachtschwarzer Kulisse, die wiederum von Lichtstrahlen hinterfangen wird, in denen sich ein Rapport rot- und grünfarbiger Schlaufenfragmente ansiedelt. Auf einem anderen Blatt bevölkern gelbgrün-blaue Kreis- und Sichelformen als ornamentale Choreografie ein weißes Feld auf rotem Grund. Als Verbund kontrastieren sie im perspektivelosen Bildraum die Szenerie aus blauen, vereinzelten Wesenseinheiten im Hintergrund und markieren eine vermeintlich räumliche Distanz. Auf einem weiteren Blatt präsentieren sich rechtwinklige, offene und geschlossene Elemente als architektonische Anordnung in Schwarzweiß vor bewegungsreichen pastellfarbenen Linienbündeln, die sich mit zwei lanzettförmigen Gestaltungskomponenten zu einer Art Rauchwolke vereinen.

Dabei setzt Michael Schramm nicht auf die endgültige Vorabplanung eines bestimmten Bildsujets, vielmehr entwickelt er es während des Bildwerdungsprozesses in unmittelbarem Dialog mit seinen Zeichenmaterialien. Vor dem Hintergrund der für ihn stets präsenten und zwingenden Frage, was Zeichnung alles sein kann, hat er diese während der letzten zehn Jahre, in denen er das Zeichnerische als sein genuines Gestaltungsmedium fokussiert, mit immer virtuoser werdenden Methoden erprobt. So verwendet er neben dem Bleistift in unterschiedlichen Härtegraden, Buntstifte, Acryl- und Tuschestifte, Ölpastellkreiden und darüber hinaus Linoldruckfarbe beim Einsatz des Monotypie-Verfahrens, das er insbesondere seit seiner Plochinger Stipendiatszeit bei fast allen Arbeiten mit anwendet.

Jedes dieser Materialien bringt hinsichtlich seiner Beschaffenheit einen ganz eigenen Charakter mit, der verantwortlich ist für die Art der Struktur und der Körperlichkeit einer Linie, eines Strichs, ob sie dick oder dünn sind, offen oder geschlossen, geschmeidig oder spröde, matt oder glänzend und in welcher Art sie sich auch für die Flächengestaltung oder gar für malerische Effekte eignen. Daran entscheidet der Künstler den Modus seiner Strichführung und das Maß an Kraft und Tempo beim Auftrag des Materials. Mitunter zeichnet er auch mit ganzen Bündeln von Stiften gleichzeitig. Bei dieser Methode wird die Form während eines einzigen Arbeitsgangs in unterschiedlichen Farbtönen potenziert, was ihre Präsenz verstärkt und ihre Dynamik steigert. Auch andere Methoden, das Arbeitsmaterial eher unkonventionell zum Einsatz zu bringen, die er von zeitgenössischen oder historischen Kollegen her kennt, wendet er an, wo es die Komposition unterstützt, so beispielsweise das zweihändige Zeichnen oder das Arbeiten mit Stiften, die er sich an die Finger bindet.

Ein quasi indirektes Verfahren der Zeichnung, das Michael Schramm für die differenzierte Struktur und Stofflichkeit seiner Motive gerne nutzt, ist die bereits erwähnte Monotypie-Technik. Ich nenne sie „indirekt“ deshalb, weil die Formgebung über die Blattrückseite erfolgt. Dazu bringt er Linoldruckfarbe auf eine Glasplatte auf und platziert darauf einen Bogen Papier. Dessen Rückseite, die nun vor ihm liegt, versieht er mit zeichnerischen Strukturen, die sich je nach Ausübung von Druck über das Zeicheninstrument auf das Papier und dem Feuchtigkeitsgrad der Farbe auf der Glasplatte spiegelverkehrt auf der Vorderseite abbilden. Durch dieses indirekte Verfahren in Kombination mit der Verwendung von Linoldruckfarbe ergeben sich erweiterte bzw. andere haptische Qualitäten der Materialkonsistenz als bei einer Zeichnung, die direkt auf der Papiervorderseite vorgenommen wird. Nicht selten kombiniert Michael Schramm auch beide Verfahren, indem er ein bereits auf seiner Vorderseite bearbeitetes Blatt an ausgesuchten Stellen mit Schablonen versieht, bevor er es auf die Linoldruckfarbe legt, so dass diese in den abgedeckten Zonen keine Angriffsfläche hat und die ursprüngliche Zeichnung dort nach Entfernung der Schablonen wieder pur in Erscheinung treten kann.

Den Bildwerdungsprozess als solchen versteht Michael Schramm als einen Vorgang, der von gleichberechtigten Partnern ausgelöst und bestimmt wird, wobei er mit den Partnern sich und sein Material meint, Zitat: „Das leere Blatt ist zunächst gefundenes Objekt. Wer findet wen oder was? Wer ist Medium? Wer ist Instrument? Wer trägt mehr zur Improvisation bei? Die Grenzen verschwimmen, spiegeln oder bekämpfen sich. Diese rastlosen Interaktionenzwischen Subjekt und Objekt, die auf Augenhöhe miteinander stehen und ineinandergreifen, werden aufgezeichnet.“

Gerade „diese“ von ihm so benannten „rastlosen Interaktionen auf Augenhöhe, die ineinandergreifen“ sind es, die entscheiden, was sich motivisch und thematisch auf dem Papier konstituieren wird. Steht erstmal eine Form aus einem bestimmten Material auf dem Blatt, reizt und stimuliert sie durch ihre Stofflichkeit den Künstler zu einem spezifischen, ihr adäquaten weiterführenden Motiv. Dessen Strukturen und Farben wiederum orientieren sich an und generieren sich aus der materialen Konsistenz, so dass sich das surreale Gebilde durch seine Physiognomie in seiner Typik authentisch vermittelt. Für seine Gegenwart ist es nicht wesentlich, ob es einen Namen hat, sich mit einem uns vertrauten Begriff bezeichnen lässt, denn es erzählt sowieso seine eigene Geschichte in seinem ganz eigenen Kontext. Und darum geht es: neue Kontexte zu eröffnen, sie zuzulassen, Vertrautes nochmal anders zu begreifen.

Dies kommuniziert Michael Schramm nicht minder über die Bildtitel, mit denen er seine Zeichnungen versieht. Inspiriert von englischen Songtexten und anderen Schriften in englischer Sprache, gibt er seinen Arbeiten überwiegend englische Titel. Dadurch entsteht eine erste Stufe konstruktiver Distanz zwischen dem Bild und seinem Titel. Eine weitere besteht darin, dass er bisweilen das Dargestellte durch den Titel ironisiert oder darin Befindlichkeiten formuliert, deren bildnerisches Äquivalent eine subjektive Erfahrung beschreibt oder auf eine Situation in einem Liedtext anspielt. „Ausgrabungszeitrechnerdurchmesser“ ist ein Beispiel aus seinem deutschen Titelrepertoire. Dabei handelt es sich um eine Wortschöpfung, die drei unterschiedliche Vorgänge bzw. Objekte auf eine gemeinsame Bedeutungsebene zwingt, um den Sinngehalt des Einzelnen mit dem seiner Verknüpfung zu konfrontieren.

Die Dinge, Wesen und Räume, wie Michael Schramm sie typisiert und als gezeichnete Parallelwelt in einem Irgendwo verortet, sind „nicht vollkommen abstrakt“, „wenn“ überhaupt, „dann“, so formuliert er es selbst, „Abstraktionen von Ideen, Repräsentationenvon Elementen einer gesehenen, einer ungesehenen, einer vermittelten, einer gedachten Umwelt.“

Lassen wir sie also „singen“ die namenlosen Wesen und Dinge, wie es sich Rilke vor mehr als einem Jahrhundert gewünscht hat, denn gerade dadurch werden wir befähigt, erweiterte Denkräume visuell zu erschließen.